Wie kann mit Gefahren aufwachsen im Alltag sinnvoll funktionieren?

„Mein kleiner Sven hält mich total auf Trapp, er wird jetzt so schnell mobil!“ „Ich komme gar nicht mehr hinterher! Gefühlt kann er heute Sachen, die er gestern noch nicht ansatzweise konnte! Ganz schön schwierig!“ „Gestern habe ich schnell alle Sachen auf halber Höhe in Sicherheit gebracht, er kommt schon überall ran und zieht alles runter!“ …Diese Sätze kenne ich….von mir selbst und von nahezu allen Eltern in meinem Umfeld. Gerade Ersteltern sind natürlicherweise regelmäßig irritiert oder auch überfordert, wenn das Baby mobiler wird und es darum geht, es vor schlimmen Unfällen zu schützen. Das Zuhause muss schnell kindersicher gemacht werden. Aber wie genau geht das? Von allen Seiten erhalten die Eltern die unterschiedlichsten gutgemeinten Tipps, von hunderten Produktempfehlungen über „lass doch einfach laufen“ bis hin zu „früher gab es das bei uns auch nicht“, „wir haben einfach alles zugeschlossen“ oder auch „ich rufe den ganzen Tag ganz laut nein und das versteht er schon “…schwierig da einen guten Mittelweg zu finden oder? Zum Glück gibt es inzwischen auch immer mehr Stimmen, die Eltern animieren mehr auf das Bauchgefühl zu hören und gemeinsam und achtsam mit ihren Babys das Thema Unfallprävention anzugehen.

Wie meist liegt die Wahrheit – oder in diesem Fall das sicherste Vorgehen – also irgendwo zwischen alles abschließen und einfach laufen lassen. Wo und wie genau möchte ich mir heute mit Euch einmal näher anschauen. Mit ein bisschen Theorie, praktischen Infos und ein paar hilfreichen Tipps für Euren Alltag.

Eltern sind Dreh- und Angelpunkt

Zwei Dinge sind zu Beginn schon sicher: Ihr als Eltern seid nicht nur die Beschützer, also für die Sicherheit Eurer Kinder verantwortlich. Ihr seid vor allem auch diejenigen, die die Grundsteine für das nachhaltige Verständnis Eurer Kinder, für die weitere Entwicklung legen. Unfallprävention beginnt bei Euch selbst. Ein gutes Vorbild zu sein ist das A und O, das habt Ihr sicher schon ganz oft gehört. Ja und sorry, wenn ich das jetzt so sage…aber es ist wirklich so – Ihr seid der Dreh- und Angelpunkt, der Anker für Eure Kinder.

Gefahr vs. Risiko – im Alltag einfach erkannt

Bevor Ihr aufgrund einer möglichen Gefahr im Alltag mit kleinen Kindern vorab Maßnahmen ergreift ist es essentiell, dass Ihr euch zunächst über den Unterschied der Begrifflichkeiten klar werdet. Denn nicht bei jeder Gefahr ist das Risiko gleich hoch. Ein gutes Beispiel ist eine Straße. Die Straße ist die drohende Gefahr, das ist sicherlich allen klar. Aber das Risiko, das von dieser Straße ausgeht, kann total unterschiedlich sein – so ist das UnfallrisikoKind an Zebrastreifenfür ein Kind, das an einer Hauptstraße lebt, natürlich viel höher als für ein Kind, das in einer kleinen Sackgasse wohnt, wo kaum Autos fahren. Dort kann das Kind vermutlich meist sogar nahezu bedenkenlos auf der Straße spielen, mit Kreide malen, Seil hüpfen usw. Dies wäre an oder auf einer Hauptstraße natürlich unmöglich. Dennoch bleibt bei beiden Szenarien die Gefahr die Straße selbst, die immer vorhanden ist. Lediglich das Risiko, das von dieser Gefahr ausgeht, verändert sich. Und das gilt es zu minimieren.

Es ist also extrem wichtig, dass Ihr Euch in Eurem Zuhause genau anschaut, welche Gefahrenquellen es gibt, danach explizit abwägt, welches Risiko von welcher Gefahr tatsächlich im Alltag für Euer Kind ausgeht und zuletzt natürlich auch, wie Ihr mit diesem Risiko umgehen wollt…mit und für Eure Kinder. Nehmen wir den Herd in der Küche als zweites Beispiel. Der Herd ist die potentielle Gefahr, den Herd könnt Ihr natürlich auch nicht ausbauen. Den braucht Ihr natürlich. Aber das Risiko, das vom Herd für Eure Kinder ausgeht, könnt Ihr klar einschätzen und auch beschränken. Ihr könnt z.B. einen Herdschutz anbringen (dazu rate ich Euch übrigens auch), der das Risiko von Verbrühungen & Verbrennungen minimiert. Und Ihr könnt von Anfang an Eure Kinder an diese Gefahr heranführen, sie sensibilisieren, das Risiko risikokompetent in Euren Alltag mit einbauen, damit sie schnell lernen damit umzugehen.  

Ich möchte Euch animieren – geht doch jetzt einmal und mit genau diesem neuen Blickwinkel durch Euer Zuhause und versucht die möglichen Gefahrenquellen jetzt mit dem abwägenden Verständnis Gefahr vs. Risiko zu betrachten. Ändert Ihr vielleicht Eure Herangehensweise?

Was ist der Unterschied zwischen Risikokompetenz und Sicherheitserziehung?

Gerade im privaten Umfeld mit Kindern können wir bei diesen Begriffen einen immens großen Unterschied feststellen. Per Definition ist Sicherheitserziehung die „pädagogische Einflussnahme auf das Gefährdungsbewusstsein…[1] In der Praxis sind damit die Regeln und Beschränkungen von uns Eltern gemeint, also sog. passive Sicherung. Gefühlt überall erteilen wir unseren Kindern nahezu automatisch Regeln oder Verbote, wie

  • „ohne Helm fährst Du nicht Fahrrad“ oder
  • „an diese Schublade darfst Du nicht ran (deshalb verschließen wir sie mit einer Kindersicherung)“ oder
  • „diesen gefährlichen Weg zur Schule darfst du nicht gehen“.

 Der Gedanke dahinter ist selbstredend, mit vorgegebenen Regeln können Eltern Gefahrensituationen leichter entschärfen und dadurch helfen, diese besser zu bewältigen. Stimmt das, hilft Euch das wirklich? Schauen wir genauer hin…nachhaltig für Eure Kinder sind pure Regelwerke zumindest auf lange Sicht gesehen nicht. Denn für die Entwicklung der Kinder fehlt hier als zweite Komponente die sog. aktive Sicherung, bei der dann durch das Erkennen der Gefahren (entweder selbst oder mithilfe der Eltern) und der Überlegung von Lösungen der Erwerb von risikokompetentem Verhalten beginnt. Nur mit Regeln bleibt der wichtige Punkt des Verstehens der Gefahren zurück. Risikokompetenz ist also viel mehr als pure Sicherheitserziehung: das Erkennen von Gefahren, das sich aktiv damit Auseinandersetzen, Bewerten und das Finden von Lösungen.

Ein Kind, dass z.B. schon von ganz früh an als feste Regel „eingetrichtert“ bekommen hat, immer mit Helm Fahrradzufahren, wird diese Riegel bis zur ersten „Selbstbestimmungszeit“ brav ausführen. Allerdings wird es nicht nachhaltig die Wichtigkeit dieser Maßnahme erkennen und begreifen (vielleicht auch noch ohne ein gutes Vorbild zuhause), wenn die Eltern diese Regel nicht mit kindgerechtem, risikokompetentem Verhalten verknüpfen.

Die Eltern sind hier wieder nicht nur Vorbild, sondern das Fundament, für eine gesunde Entwicklung des Gefahrenbewusstseins. Mama und Kind mit RadhelmenSpätestens in der Pubertät wird sonst die Auflehnung gegen die Regeln der Eltern folgen. Das geht dann so: zuhause mit Radhelm losfahren, an der nächsten Ecke den Helm abziehen und sich überlegen fühlen. Regeln zu brechen ist leicht. Einen überzeugend implementierten Sicherheitsgedanken zu übergehen wird kaum möglich sein und hält ein Leben lang.

Sicherheitserziehung ist also – wie jede Form der Erziehung – als Hilfe zur Reduzierung von nicht absehbaren Gefahren gedacht. Risikokompetenz aber ist oftmals das genaue Gegenteil, das aktiv mit den Gefahren „arbeiten“ und daraus lernen, Lösungen „bauen“, ohne feste Regeln aufzuerlegen. Es ist daher essentiell wichtig, dass Ihr Euren Kindern neben notwendigen Strukturen, Grenzen und Regeln im Alltag bereits von Klein auf altersgerecht und stetig wiederholend erklärt, wo welche Gefahren mit welchen Risiken lauern könnten und wie Ihr mit diesen Gefahren bestenfalls sicher umgehen lernt sowie gemeinsame Lösungen für Gefahren findet. So und durch die Möglichkeit von eigenen Erfahrungen fördert Ihr das sichere Verhalten Eurer Kinder [2].

Die Entwicklung achtsam fördern

Da das Gefahrenbewusstsein der Kinder sich von Natur erst mit ca. 4-5 Jahren überhaupt zu entwickeln beginnt, ist es wichtig, dass Ihr Eure Kinder bereits schon früh proaktiv bei der Entwicklung unterstützt. Alle Schränke verschließen, Dinge wegsperren und nur Regeln und Verbote erteilen ist hier ganz klar ein kontraproduktiver Ansatz und für Eure Kinder nicht hilfreich. Kinder sollen und dürfen ausprobieren. Das ist ihr natürliches Recht. Gebt Ihnen diesen Raum, ermutigt sie zu Herausforderungen, bewegt Euch achtsam mit Euren Kindern auch durch kritische Situationen. Dabei hat jedes Kind seine ganz eigenen Kompetenzen, also Stärken, Vorlieben und auch Schwächen.

Buchtipp für den Alltag

Ein Zitat von Remo H. Lago aus seinem Hörbuch “Kinderjahre” trifft es ziemlich genau auf den Punkt: „Je mehr es uns gelingt, uns auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzustellen, desto besser werden sie sich entwickeln und desto geringer wird der erzieherische Aufwand sein.“ Umsetzbar sind diese Worte auf alle alltäglichen Situationen, gerade auch auf die Prävention. Je mehr Ihr Euer Kind, seine aktuelle Entwicklungslage und seine Bedürfnisse versteht, seine individuellen Kompetenzen fördert, desto einfacher ist es auch, Euer Kind proaktiv einzubeziehen und ihm risikokompetentes Verhalten mitzugeben. Und natürlich wird der Erziehungsärger auch weniger, Ihr wachst zu einem Team zusammen. Also z. B. wenn Euer Kind immer klettern möchte, unterbindet es nicht. Weißt es nicht mit Regeln an „auf Bäume klettern wir nicht, das ist zu gefährlich“. Fördert diesen Wunsch, helft Eurem Kind, unterstützt es beim Klettern, klettert vielleicht sogar mit…so entwickelt Euer Kind hier super schnell sichere motorische Fähigkeiten und ein Verständnis für Vorsicht sowie Details beim Klettern und wird auch lernen, sein Verhalten nachhaltig umzusetzen.

Kind klettertSo könnt Ihr risikokompetent Unfälle vermeiden. Übrigens könnt Ihr so sogar noch ein weiteres Schnippchen schlagen. Remo H. Lago spricht in seinem Buch auch über den Grundgedanken: „Wie sich ein Kind fühlt bestimmt sein Verhalten“. Mein Alltagstipp: rahmt Euch diesen Spruch ein und lebt danach, denn das ist das Geheimnis für nahezu jegliche Verhaltensmuster und den Alltag bei und mit kleinen Kindern und einer guten, ausgeglichenen Beziehung zu ihnen.

Das Buch kann ich Euch insgesamt sehr ans Herz legen. Die kindliche Entwicklung, kognitiv wie auch körperlich sowie auch die jeweiligen Bedürfnisse werden darin wirklich einfach und anschaulich erklärt. Ihr lernt verstehen welche Kompetenzen Euer Kind mitbringt, wie Ihr sie erkennt und im Alltag fördert. Das Buch gibt Euch nicht nur super viele Fachinfos, sondern auch viele Tipps an die Hand, wie ihr Ärgernisse mit den Kindern im Alltag mit wenig Aufwand umgehen könnt. Die Kapitel sind klein gegliedert und übersichtlich gestaltet, so dass Ihr Euch je nach Geschmack und aktueller Alltagssituation genau das für Euch passende Thema herauspicken könnt.

Ich persönlich verwende das Buch als Hörbuch über audible. So kann ich immer wieder schnell zu dem Kapitel „hüpfen“, das aktuell für unsere Situation passt und gerade interessant ist. Außerdem kann ich mir das immer wieder nebenbei anhören und muss mir nicht ruhige Minuten zwischendrin „abknapsen“. Das Buch hilft mir sehr, immer wieder auf die aktuellen entwicklerischen Gegebenheiten zu fokussieren und zu verstehen, dass und warum unsere Kinder eben nicht wie kleine Erwachsene „ticken“. Ich benutze es wie eine Art Nachschlagewerk. Hört doch auch mal rein…

Ich hoffe, Ihr konntet heute den einen oder anderen kleinen Aha-Effekt mitnehmen und wünsche Euch ganz viel Freude beim Umsetzen in Eurem Zuhause und proaktiv mit Euren Kindern…sie werden es Euch danken.

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Quellen:

[1] Wikipedia zu Sicherheitserziehung

[2] BZgA, kindergesundheit-info.de

Fotos:
Canva, Katie E. v. Pexels
Canva, Joaquín Corbalán
Canva, Polka Dot Images
Canva, Baby climbing stairs

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